Ein Mensch begleitet einen durch das Leben, denn er ist Teil der Familie, in die man hineingeboren wurde. Das ist nicht ungewöhnlich. Dem Menschen, dem ich hier nachspüren will, bin ich aber nie begegnet, denn er ist bereits im Krieg gefallen und ich kenne seine Vita nur aus den Erzählungen meiner Großeltern, Tante und aus den Geschichten, die mein Vater über seinen Bruder erzählt hat. Trotzdem war er immer auf eine gespenstische Weise präsent, ohne greifbar zu werden.
Mein Onkel Wilhelm wurde 1917 als erstes Kind seiner Eltern geboren. Der Stammhalter war der ganze Stolz meiner Oma und meines Opas. Nach Kriegsende kam mein Vater auf die Welt, ein zerbrechliches, viel zu früh geborenes Kind. Später kamen noch weitere Kinder. Willi und Josef teilten sich von Anfang an ein Zimmer und da sie nur ein Jahr auseinander waren, wurden sie zu engsten Vertrauten. Sie blieben es durch die ganze Kindheit und Jugend hindurch. Willi war immer der Anführer, während mein Vater eher still und unauffällig seinen Weg ging. Erst das Studium brachte sie auseinander, das Willi als Hochbegabter schon mit 16 Jahren begann, dann folgten Arbeitsdienst und der Kriegseinsatz. Mein Vater ging nach dem Abitur erst zum Arbeitsdienst, dann an die Front. Die Brüder hatten nur noch losen Kontakt während dieser Zeit. Am Abend vor seinem 24. Geburtstag hatte mein Vater urplötzlich die Gewissheit, dass sein Bruder gerade gestorben war. Er hat mir oft davon erzählt und ich merkte, dass er, der kein Mann für Gefühlswallungen war, immer noch unter dem Verlust litt. Als mein Vater schon unter seiner Demenz litt, hat er öfter mit seinem verstorbenen Bruder geredet, was auf der einen Seite befremdlich klang, aber für mich durchaus verständlich war.
So ist mir mein Onkel, dessen medizinische Dissertation ich die Tage wieder in den Händen hielt, immer wieder durch Geschichten, Bilder und Notizen begegnet. Wichtig war für mich auch dabei, dass er sich nie als Nazi geoutet hat und seinen Tod dadurch fand, dass er einen verletzten Kameraden aus der Schusslinie holte, was ihn sein Leben gekostet hat.